Präsentation des CS Sorgenbarometers 2023
Dienstag, 21. November 2023, Hotel Bellevue Palace, Bern
Moderation:
Dominique Reber, Präsident
Präsentation des Sorgenbaromters:
Cloé Jans, Leiterin operatives Geschäft bei gfs.bern
Verantwortlich:
Lukas Golder, Co-Leiter; Marco Bürgi, Projektleiter und Cloé Jans, Leiterin operatives Geschäft – alle bei gfs.bern
Auf dem Podium:
Yvonne Feri, Syna
Jon Fanzun, FDP.Die Liberalen
Silvan Lipp, economiesuisse
Rebekka Wyler, SP Schweiz
Cloé Jans, gfs.bern
Kosten statt Arbeitsplatz – Geschichte eines Perspektivenwechsels in der Stimmbevölkerung
Die bereits langjährige Tradition, den Mitgliedern des Clubs exklusiv und vor der Publikation das Credit Suisse Sorgenbarometer präsentieren zu können, steht dieses Jahr unter einer besonderen Prämisse. , wie Club-Präsident Dominique Reber eingangs anmerkt. Dieses Jahr sei die CS wohl zum letzten Mal sichtbar. «Aber ein Ende kann auch ein Aufbruch sein», so Reber. Der Ablauf ist auch heuer – die Festtage und insbesondere der Silvester grüssen bereits am nahen Horizont – «the same procedure as every year». Zuerst stellt die Autorenschaft, repräsentiert durch Cloé Jans, die Ergebnisse der Befragung vor, danach folgt die Diskussion um die Entwicklungen im Vergleich zum Vorjahr und was die Vertreter von Politik und Wirtschaft daraus für ihre Strategien schlussfolgern. Das Sorgenbarometer existiert übrigens bereits seit 47 Jahren, seit 1995 wird es durch gfs.bern erhoben. Befragt werden jeweils im Sommer mehr als 1000 Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Auf dem Podium kann Reber dieses Jahr nebst der bereits erwähnten Cloé Jans folgende Persönlichkeiten begrüssen: Yvonne Feri, scheidende SP-Nationalrätin und seit drei Wochen Präsidentin der Gewerkschaft Syna, Jon Fanzun, FDP-Generalsekretär, Silvan Lipp, Kommunikationschef economiesuisse und Rebekka Wyler, Co-Generalsekretärin der SP.
«Für Politologinnen und Politologen ist dieser Abend schon fast besinnlich, wie die erste Kerze des Adventskranzes», begrüsst Cloé Jans die anwesenden Club-Mitglieder launig. Ohne jeden Umweg verkündet sie dann gleich zu Beginn ihrer Präsentation: «Wir haben eine neue Nummer 1, eine neue Topsorge.» Neu zuoberst auf dem Podest sind die Gesundheitsfragen respektive die Krankenkassen und Prämien. 40 Prozent der Befragten geben an, dass ihnen dieser Themenbereich Sorgen bereitet, was einen satten Anstieg von 16 Prozent im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Nach nur einem Jahr an der Spitze wird die Sorge um die Umwelt damit wieder abgelöst. Neu in den Top Ten sind die erhöhten Wohnkosten respektive der Anstieg der Mietpreise sowie die soziale Sicherheit respektive die Sicherung der Sozialwerke.
Wie gut und schnell sich die veränderten Prioritäten in der Bevölkerung im Sorgenbarometer abbilden, zeigt die Tatsache, dass der Krieg in der Ukraine und auch die Versorgungssicherheit, die vor allem durch die Corona-Pandemie Aufschub erhielt, wieder aus den Top Ten gefallen sind. Die anderen Sorgen sind im Vergleich zu 2022 nahezu konstant geblieben. Auf Rang 2 folgt der Umweltschutz inklusive dem Klimawandel und den Umweltkatastrophen (38 Prozent), die Altersvorsorge/AHV (32 Prozent) auf Rang 3, die Beziehung zu Europa (26 Prozent) auf Rang 4 und auf Rang 5 die Energiefragen (ebenfalls 26 Prozent).
Äusserst signifikant ist gemäss Jans, dass die Arbeitslosigkeit zurzeit offensichtlich überhaupt keine Sorge mehr darstellt und nicht einmal mehr in den Top 20 figuriert, was mit den tiefen Arbeitslosenzahlen korreliere. «Die Arbeitslosigkeit ist ein Nonvaleur geworden», bringt sie es auf den Punkt. «Dafür ist alles, was die steigenden privaten und allgemeinen Kosten angeht, relevant geworden.»
Als «Trendsorgen» sieht Jans die soziale Sicherheit und die Vorsorge, was sich auch mit der Themensetzung im vergangenen Wahlkampf deckt. Grundsätzlich könne man vor allem sagen, dass die Sorgen fragmentierter geworden seien. «Früher hatten wir Topsorgen, die mit 60 bis 70 Prozent auf dem ersten Platz lagen, nun hält der Spitzenreiter bei 40 Prozent.» Gründe dafür sieht Jans in der zunehmenden Heterogenität und Segmentierung der Bevölkerung. Einen wichtigen Einfluss sieht sie auch resultierend aus den Veränderungen in der Schweizer Medienlandschaft, hier insbesondere durch das Wegfallen von Leitmedien. Dadurch werde es für die breite Masse zunehmend schwieriger, am demokratischen Prozess teilzunehmen.
Als weiteren bemerkenswerten Punkt hebt Jans hervor, dass im Bereich der Umwelt und Versorgungssicherheit die Sorgen um das Benzin und das Erdöl wieder verschwunden seien und auch Verkehrsfragen kein grosses Thema mehr darstellten. Im Bereich der Aussen- und Migrationspolitik gebe es zwar einen ganz leichten Anstieg der Relevanz, was aber die beträchtlichen Wahlgewinne der SVP so noch nicht schlüssig erklären lasse. Schliesslich streicht sie – bezugnehmend auf die Begrüssungsbemerkung des Präsidenten zum Zusammenschluss der Credit Suisse und UBS– heraus, dass das Vertrauen in die Wirtschaftsakteure immer noch nahezu stabil sei. Im Bankensektor sei es zwar leicht gesunken, jedoch sei der Verlust nicht dramatisch.
Als «Take Home Message» für die Club-Mitglieder hebt Jans den Perspektivenwechsel weg von der Wirtschaft und Arbeit hin zu individuellen Fragen des Haushaltsbudgets hervor. Die Lebenszufriedenheit in der Schweiz halte auch in Krisenzeiten an. Und in strategischen Fragen würden die politischen Akteure nach wie vor Vertrauen geniessen. Selbst die Banken hätten ihre Stellung halten können. «Resilienz oder Trägheit?», ist Jans’ leicht ketzerische Frage. Die kollektive Sicht auf die Sorgen habe sich in den letzten 40 Jahren verändert, wichtige Gründe seien wie schon angesprochen die Individualisierung und der Wandel in der Medienlandschaft. Punkto Europafrage sei die Sorgenwahrnehmung zwar da und zunehmend, es sei jedoch kein Druck aus der Gesellschaft ersichtlich, der die Politik zum Handeln zwingen würde.
Club-Präsident Dominique Reber zeigt sich in einer ersten Reaktion erstaunt.
«Brauchen wir grundsätzlich einen neuen Namen für das Barometer? Sind wir in einem Land der Glückseligen? Wir haben ja gar keine Sorgen mehr», gibt er sich perplex. «Die Welt scheint gerade auseinander zu brechen, was sich aber nicht in diesen Ergebnissen spiegelt. Lebe ich in einer anderen Welt als all diese Menschen?», macht er sich seinerseits Sorgen. Jans kann ihn aber beruhigen. «Wir beobachten und registrieren all die Sorgen rund um uns herum schon, aber im Kern sind wir für den Alltag gut aufgestellt, was uns entspannter wirken lässt.» Rebers Frage, warum denn die Grünen bei den Wahlen soviel Terrain eingebüsst hätten, beantwortet sie so: «Weil andere Themen noch wichtiger geworden sind. Aber ihre Kernanliegen bleiben dringend.»
Rebekka Wyler sieht sich angesichts der Ergebnisse in der Arbeit ihrer Partei bestätigt. «Viele der Sorgen in den vorderen Rängen sind nicht weit weg von unseren Wahlkampfthemen. Spannender findet sie aber die zunehmende Fragmentierung. «Weil die Prozentpunkte nun breiter verteilt sind, heisst das noch lange nicht, dass die Sorgen weniger geworden sind.» Jans erinnert in diesem Zusammenhang als Beispiel an das Drogenproblem, das früher stark dominierte und nun nahezu verschwunden sei, auch weil die Politik so rasch darauf reagiert habe. «Weil wir fragmentierter unterwegs sind, ist es schwieriger geworden, ein Problem zeitnah und rasch anzugehen und zu lösen.» Jon Fanzun sagt zu den Ergebnissen nicht ganz ernsthaft: «Wenn man die Sorgen sieht, hätten wir eigentlich die Wahlen gewinnen müssen.» Und mit einem Seitenhieb auf Rebekka Wyler und die SP hält er fest: «Wir verdienen das Geld zuerst und geben es erst dann aus.» Wyler ihrerseits erachtet als Reaktion die Entwicklung, dass jeder lieber für sich schaut, statt fürs Allgemeinwohl, für viel gefährlicher.
Silvan Lipp von economiesuisse seinerseits ist beruhigt, zu sehen, dass die Sorgen um die Wirtschaft nicht zuvorderst rangieren. «Ich bin froh, geht es der Wirtschaft insgesamt zurzeit gut.» Doch er warnt bereits vor der nahen Zukunft. «Was noch auf uns zukommen wird, sind jene Sorgen, die die Wirtschaft schon quälen, die aber noch nicht in der Bevölkerung angekommen sind, namentlich der Fachkräfte- und generell der Arbeitskräftemangel.» Jans glaubt, dass es für viele Menschen einfach schwierig zu verstehen ist, «was im Maschinenraum der Wirtschaft passiert. Probleme zu antizipieren, so lange es uns gut geht, ist extrem schwierig.» Das ist natürlich ein gutes Stichwort für Gewerkschaftschefin Yvonne Feri. «Der Fachkräftemangel ist eine versteckte Sorge, die hier nicht richtig abgebildet wird, sondern in vielen Sorgen versteckt ist, zum Beispiel im Medizinbereich», lautet ihre erste Analyse der Ergebnisse. «Als Syna-Präsidentin macht mir die Inflation Sorgen. Mir macht Sorgen, dass die neue Armut so weit hinten rangiert im Barometer. Hier müssen die Gewerkschaften ansetzen.»
Dass die Europafrage nicht präsenter ist, bereitet nicht nur Silvan Lipp Kummer («es ist Zeit, hier endlich vorwärtszumachen»), sondern auch Yvonne Feri. «Ich bin auch Präsidentin von ProRaris, eines Netzwerkes für seltene Krankheiten. Dort sehe ich, dass wir uns auch in der Wissenschaft bewegen müssen. Wenn wir die Europafrage aber weiter vor uns herschieben, sind solche internationalen Verbindungen in Gefahr. Ich würde mir wünschen, dass der Bundesrat stärker in die EU-Verhandlungen geht. Der Lohnschutz muss gegeben sein, aber bei den Meldetagen sind wir aus Sicht der Gewerkschaften durchaus beweglich.»
Dann lanciert Jans die Diskussion um die im Barometer ebenfalls abgebildete Problemlösungskompetenz der Parteien. Mit dem Bonmot «Korrelationen sind einfacher auszurechnen als Kausalitäten», sorgt sie für allgemeine Erheiterung. Stirnrunzeln gibt es dafür bei Rebekka Wyler darüber, dass «wir bei den sozialpolitischen Themen so schlecht abschneiden.» Silvan Lipp seinerseits fragt sich, ob das Parlament reformfähig sei. « Bei vielen Themen ist es äusserst anspruchsvoll, merheitsfähige Reformen zu erreichen. Schaffen wir es überhaupt noch, parteiübergreifend Reformen zu schnüren?» Yvonne Feri, die seit 2011 für die SP im Nationalrat sass, gibt Entwarnung. «Das Parlament bringt schon immer wieder Reformen ein, zum Beispiel bei der Altersvorsorge. Nur hat das Volk diese dann verhindert. Die Frage müsste also eher sein: Stösst das Parlament Reformen an, die beim Volk auch ankommen?»
Bei den Fragen aus dem Plenum wird noch einmal die zunehmende Fragmentierung aufgegriffen, auf die Cloé Jans bereits als wichtiges Problemfeld aufmerksam gemacht hat. «Durch den Wegfall von Leitmedien sind die Leute weniger informiert und können sich schlechter Meinungen bilden. Und sie sind anfälliger für Falschmeldungen. Das macht es grundsätzlich schwieriger, Politik zu betreiben. Man wird empfänglicher für emotionalisierte Kommunikation und für Polarisierung. Wahlresultate werden knapper. Und die Leute können die Konsequenzen von Politentscheiden zum Teil nicht mehr richtig abschätzen», fasst Jans zusammen. Silvan Lipp fragt sich deshalb, ob die Präsenz auf jungen Plattformen wie Insta oder Tiktok genügend sei. «Hier ist die politische Kommunikation gefragt. Der Medienwandel ist derart rasant, dass es enormen Handlungsbedarf gibt.» Jans pflichtet ihm bei. «Wir müssen neue Formen finden, Demokratie üben zu können. Denn mit dem Vereinssterben fallen klassische Demokratieschmieden weg, Und auch in der Schule wird es schwieriger, Jugendliche für politische Bildung zu interessieren. Das Fundament geht verloren.»
Für die kurze Schlussrunde inklusive Zukunftsausblick sind die Positionen schon bezogen. «Wir nehmen die Sorgen der Menschen ernst. In der kommenden Legislatur werden Themen die Europapolitik, die nachhaltige Sicherung der Renten sowie die Energiepolitik – sprich die Kernkraftwerkfrage – wichtig sein. In all diesen Themen braucht es tragfähige Mehrheiten.» meint Jon Fanzun. Für Rebekka Wyler ist klar: «Für uns steht die Kaufkraft im Zentrum, Löhne, Renten, Mieten, Krankenkassen. Die soziale Frage bleibt unser Kerngebiet.» Yvonne Feri sieht es naturgemäss ähnlich: «Ich möchte mit unserer Arbeit den Mensch ins Zentrum stellen, die Zufriedenheit am Arbeitsplatz, die Mindestlöhne und Gesamtarbeitsverträge.»
Silvan Lipp prognostiziert, dass der «Arbeitskräftemangel noch stärker werden wird. Und was wir heute gar nicht besprochen haben: Wir gehen wir mit der wachsenden Bevölkerung um? Damit wir auch in zehn und 20 Jahren eine lebenswerte Schweiz haben? Wir brauchen dazu eine offene und differenzierte Diskussion.»