Credit Suisse Sorgenbarometer 2022
grosse Rochade bei den Sorgen

Dienstag, 22. November 2022, Zum Äusseren Stand, Bern

Moderation:
Dominique Reber, Präsident des Clubs

Präsentation des Sorgenbarometers:
Manuel Rybach, Global Head of Public Policy and Regulatory Foresight bei der Credit Suisse

Auf dem Podium:
Cloé Jans, gfs.bern
Jürg Grossen, Nationalrat GLP
Martin Landolt, Nationalsrat Die Mitte
Alec von Graffenried, Berner Stadtpräsident

Die Spannung im vollbesetzten Empire-Saal im Äusseren Stand war beinahe zu greifen: Einen Abend vor der offiziellen Veröffentlichung bekommen die Mitglieder des Club Politique jeweils vorab exklusiv die Resultate des aktuellen Credit Suisse Sorgenbarometers zu sehen. CS-Vertreter Manuel Rybach bezeichnete es in seiner informellen Einleitung als «spannendes Pulsmesserinstrument, das die Stimmung der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger wiedergibt». Dieses «umfassende demoskopische Informationssystem zur Erfassung des gesellschaftlichen und politischen Pulses der Schweizer Bevölkerung» existiert seit 1976, die Grossbank lässt es in Zusammenarbeit mit gfs.bern jeweils im Sommer des laufenden Jahres erheben. Die Ergebnisse lassen Rückschlüsse und Prognosen auf die inhaltlichen Themen des kommenden Politjahres und der nahen politischen Zukunft zu, ein perfekter Steilpass für den Wahlkampf sozusagen. Nebst der Erhebung wird jeweils auch eine Spezialpublikation herausgegeben. Der «Kompass für die Schweiz» umfasst 2022 unter anderem ein Interview mit der abtretenden Bundesrätin Simonetta Sommaruga und Texte der im Panelgespräch involvierten Nationalräte Jürg Grossen und Martin Landolt.
 
Nach einer kurzen Einführung ging Manuel Rybach sogleich auf die wichtigsten Resultate ein. Drei Ergebnisse der aktuellen Ausgabe strich er besonders hervor: «Erstens haben wir einen neuen Spitzenreiter. Zum Zweiten ist die Arbeitslosigkeit zum ersten Mal seit 1976 nicht mehr in den Top Ten. Und drittens ist Corona nach zwei Spitzenrängen 2020 und 2021 schon wieder aus Top Ten gefallen.» Konkret lautete die Fragestellung der repräsentativen Erhebung bei rund 1800 Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern wie folgt: Welche fünf dieser Probleme sind aus Ihrer Sicht für die Schweiz am wichtigsten? Hier die Top Ten im Überblick mit den Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent:
 
Rang 1: Umweltschutz/Klimawandel, 39 Prozent (-)
Rang 2: AHV/Altersvorsorge, 37 (-2)
Rang 3: Energiefragen/Kernenergie, 25 (+11)
Rang 4: Beziehungen zu Europa/Rahmenabkommen, 25 (-8)
Rang 5: Inflation, 24 (+16)
Rang 6: Gesundheit/Krankenkasse, 24 (-1)
Rang 7: Versorgungssicherheit, 21 (neu)
Rang 8: Krieg in der Ukraine, 20 (neu)
Rang 9: Ausländer/Zuwanderung, 19 (-1)
Rang 10: Flüchtlinge/Asylfragen, 16 (-3)
 
Das Problem «Corona-Pandemie und ihre Folgen» hat gleich 27 Prozent verloren und figuriert noch auf Rang 16, der Problemkreis «Umweltschutz/Klimawandel» rangiert erstmals seit 1990 wieder auf der Pole Position. Der erstmalig vertretene «Krieg in der Ukraine» scheint auf den ersten Blick mit Rang 8 und 20 Prozentpunkten etwas unterdotiert. Er bewegt die Bevölkerung aber direkt und indirekt noch viel stärker, weil seine möglichen Auswirkungen auch in andere Problembereiche wie die «Versorgungssicherheit» oder die «Energiefragen» einfliessen.
 
Das zusätzlich alle zwei Jahre erhobene Jugendbarometer bei Jugendlichen zwischen 16 und 25 in der Schweiz, den USA, Brasilien und Singapur zeigt 2022, dass diese der Ukraine-Krieg weniger bewegt als die Befragten des «normalen» Barometers. In den Top 5 der Schweizer Befragung rangieren folgende Probleme: AHV-Reform, Klimawandel, Benzin-/Ölpreis, Energieprobleme/ Versorgungssicherheit und Gleichstellung der Geschlechter. Auffällig ist, wie abweichend die Spitzenreiter in den drei anderen erhobenen Ländern ausfallen. In den USA erscheint die Kriminalität als wichtigstes Problem, in Brasilien die Korruption und in Singapur sind es Fake News. Auffallend ist zudem, dass drei der fünf Schweizer Problemthemen den Energiekomplex betreffen.
 
Rybach wies im Nachgang auf weitere bemerkenswerte, im aktuellen Sorgenbarometer erkennbare Trends hin. Allgemein wächst der Zukunftspessimismus in der Schweiz und ist so hoch wie noch nie. 19 Prozent sagen dieses Jahr, dass es Ihnen in den nächsten zwölf Monaten gemäss ihrer Einschätzung schlechter gehen werde als zum jetzigen Zeitpunkt. Diese Frage wird seit 1997 erhoben. Zur Beziehung zwischen der Schweiz und Europa kann gesagt werden, dass Europa als geeinter wahrgenommen wird als auch schon, dies ganz klar als eine Folge des Ukraine-Krieges. Generell formulierte Rybach aus dem Sorgenbarometer 2022 folgende Kernaussagen: Es gibt eine Umwälzung der Sorgenlandschaft. Das Klima-Thema hat sich etabliert und ist neu an der Spitze, auch, weil andere Dauerbrenner abgetaucht sind. Zudem lässt sich wieder ein leicht gestiegenes Vertrauen in die Institutionen erkennen.
 
Beim anschliessenden Panelgespräch holte Club-Präsident und Moderator Dominique Reber die Meinungen des Quartetts zu den präsentierten Ergebnissen ein. Cloé Jans appellierte an die Volksvertreter, das Abbild der Sorgen ernst zu nehmen, weil es erfahrungsgemäss die Stimmung wirklich gut abbilde. Jürg Grossen, der sich seit seinem Eintritt in die Grosse Kammer vor elf Jahren als Experte in Energiefragen engagiert, betonte, dass er und seine Partei nun nicht entspannter ins nächste Wahljahr gingen, nur weil sie bei den hier als relevant ersichtlichen Themen «gut aufgestellt seien». Martin Landolt seinerseits skizzierte angesichts der Gefühlslage gar existenzielle Sorgen. «Ich sehe dieses Ergebnis mit den Augen eines Vaters und habe mit meinen Töchtern oft genau solche Diskussionen. Die Töchter fragen mich: Ist es überhaupt noch verantwortungsvoll, Kinder in die Welt zu setzen? Und ich weiss jeweils nicht, was ich ihnen antworten soll. Der Zukunftspessimismus macht mir Kummer. Und beim Klimawandel haben wir einen Wettlauf gegen die Zeit, den wir vielleicht gar nicht gewinnen können.»
 
Etwas weniger pessimistisch klang Alec von Graffenried: «Zukunftssorgen haben die Jungen immer beschäftigt, das finde ich jetzt nicht so überraschend. Ich habe als junger Mann auch gegen den Vietnamkrieg und die AKW’s demonstriert. Was ich aber spannend finde: Dass neu die Versorgungssicherheit auftaucht. Wir haben bisher lange daran vorbei diskutiert, nun ist sie auf einmal da.» Damit lieferte er Jürg Grossen einen Steilpass. «Ich habe mich als Nationalrat immer sehr stark mit diesen Themen beschäftigt. Die Bürgerlichen standen in den letzten zehn Jahren stark auf der Bremse in Energiefragen. Wir hätten alles viel billiger haben können, das rächt sich jetzt. Denken wir nur an die verloren gegangene Abstimmung über das CO2-Gesetz…», so Grossen, «…die heute nicht mehr verloren gehen würde», wie von Graffenried meinte. Grossen pflichtete ihm bei: «Das war ein schwarzer Sonntag. Aber wenn man einmal einen Unfall hat, darf man nicht liegenbleiben, man muss weitergehen.» Und Jans ergänzte, dass die «Schweiz in Preisfragen halt sehr sensibel sei».
 
In der Schlussrunde ging es darum, die Verschiebungen konkret zu kommentieren. Landolt merkte in seiner Analyse an, dass mit Corona und nun dem Ukraine-Krieg zwei völlig unberechenbare Ausnahmesituationen aufgetreten seien, mit denen «grundsätzlich schwer umzugehen sei, obschon sie uns alles andere als gleichgültig liessen». Von Graffenried sagte, dass er zwar «kein Parteistratege» sei. «Aber ich kann etwas zu meinen persönlichen Sorgen sagen. Ich vertrat bisher immer die Ansicht, wir seien in diesem Land relativ gut im Problemlosen. Nun bin ich mir da plötzlich nicht mehr so sicher. Ich sehe viele Strategieversagen, gerade in der Europapolitik. Da sollte man manche Leute schlicht und einfach ‚chläpfe‘. Wir haben nie adäquat auf Krisen reagiert. Wir hatten schon in den frühen 1970erJahren eine Ölkrise, wir hatten zwei Immobilienkrisen und eine Wirtschaftskrise. Und wir haben nichts gemacht und nichts daraus gelernt. Es muss nun echte Umwälzungen und Strategien geben. Was ist wichtig für unseren wirtschaftlichen Erfolg? Vor allem die Beziehungen zu Europa. Wir müssen voll in den Binnenmarkt integriert werden. Ich weiss nicht, was es braucht, damit uns endlich die Augen aufgehen», so von Graffenried.
 
Grossen schlug in dieselbe Kerbe. «Wir diskutieren die Probleme nicht, sondern bewirtschaften sie nur. Wir befinden uns in einer Art Wohlstandsverwahrlosung. In den letzten zwanzig Jahren gab es hier keine echten Schwierigkeiten mehr. Das ändert sich nun. Einige Leute müsste man wirklich ‚chläpfe‘», schloss er sich dem handfesten Votum des Stadtpräsidenten an. Beim anschliessenden Apero und Abendessen beruhigten sich die Aufregungen dann aber wieder rasch und das mögliche Geräusch von ausgeteilten saftigen Ohrfeigen wich dem lieblicheren Klang von sanft zusammenstossenden Weiss- und Rotweingläsern.