Die aussenpolitischen Herausforderungen der Schweiz
Einen Tag nach dem teilweise überraschenden Ausgang der Bundesratsersatzwahl und nur Stunden nach der neuen Departementsverteilung richteten die Mitglieder des Club Politique beim letzten Anlass des Jahres ihren Blick über die Landesgrenzen hinaus. Prominenter Gast war EDA-Staatssekretärin Livia Leu zum Thema «Die aussenpolitischen Herausforderungen der Schweiz». Leu hat ursprünglich in Zürich und Lausanne Rechtswissenschaften studiert und gemäss Club-Präsident und Moderator Dominique Reber stets die «heissen Eisen» der Schweizer Aussenpolitik in den Händen gehabt, so die Iran-Mission für die USA und nun das EU-Dossier. In ihrer zugänglichen Art hatte Leu das Auditorium rasch gewonnen. «Wahrscheinlich waren Sie gespannt auf diesen Tag. Aber nicht wegen meinem Referat, sondern wegen der Regierungsneubildung», stapelte sie punkto Erwartungshaltung tief. Ihre Ausführungen drehten sich um die vier Themenfelder Ukraine-Krieg, die Beziehungen der Schweiz zur EU, den kommenden Sitz im Uno-Sicherheitsrat und die aktuelle Situation im Iran.
Leu zum Ukraine-Krieg
«Von der diplomatischen Warte aus war 2022 ein schwieriges Jahr. Der Krieg kehrte nach Europa zurück und er war das prägende Ereignis überhaupt. Er regt zum Denken an und er befördert die europäische Solidarität. Wir befinden uns im Herzen Europas, nicht nur der Lage wegen, sondern auch, weil wir Teil der selben Wertegemeinschaft sind. Wir haben rasch reagiert. Der Bundesrat hat das Verhalten Russlands sofort schwer verurteilt und trägt die Sanktionen vollumfänglich mit. Bis jetzt hat die Schweiz rund 6000 Tonnen Hilfsgüter geliefert und über 100 Millionen Franken an Finanzhilfe zugesichert. Dazu kommen eine ähnliche Summe der Glückskette und das durch den Bundesrat genehmigte neue Winterhilfspaket von weiteren 100 Millionen. Durch den Schutzstatus S ist eine unbürokratische Aufnahme der Flüchtlinge möglich. Solidarität ist von allen gefordert und die Einheit gegenüber Russland bleibt ein Kraftakt für die EU. Der Krieg ist eine akute Bedrohung für die Nahrungsmittelsicherheit und die Energieversorgung. Seit dem 24. Februar stellen sich uns viele komplexe Fragen: Können wir vermittelnd tätig sein? Wo haben wir überhaupt Spielraum? Wie sieht unser aussenpolitisches Profil in Zukunft aus? Können wir uns angesichts der multipolaren Bewegungen weiter als unabhängig positionieren? Der Wiederaufbau in der Ukraine muss mit Reformen im Land verknüpft werden. Der Krieg hat die Debatte um die Neutralität neu entfacht. Sie ist ein flexibles Instrument und ein schweizerisches Markenzeichen. Aber wir müssen unseren Mehrwert und unsere guten Dienste immer wieder unter Beweis stellen. Ich bin ich von der Sinnhaftigkeit der Neutralität vollumfänglich überzeugt.»
Leu zu den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU
«Unsere Beziehungen zur EU markieren die Schlüsselfrage der Schweizerischen Aussenpolitik: 2018 hat die EU die Verhandlungen über das Institutionelle Abkommen InstA für beendet erklärt. Der Anspruch der EU bleibt unverändert. Der Bundesrat hat im letzten Februar signalisiert, verschiedene Anliegen der EU zu prüfen. Wir sind grundsätzlich bereit, eine dynamische Rechtsübernahme der Verträge vorzunehmen. Das würde eine bedeutende Konzession der Schweiz darstellen. Grundsätzlich verfolgen wir eine Weiterentwicklung des bilateralen Weges. Die Schweiz ist bereit, auf folgende vier Anliegen der EU einzugehen: Diese betreffen nebst der dynamischen Rechtsübernahme einen Streitbeilegungsmechanismus, die Regelung der staatlichen Beihilfen und eine Bestätigung des Schweizer Kohäsionsbeitrages. Seit diesem März führen wir Verhandlungen und die Entwicklung der Gespräche stimmen mich vorsichtig optimistisch. Was wir nun konkret tun, ist, sogenannte Landepisten für mögliche zukünftige Verhandlungen vorbereiten. In den letzten Monaten haben wir intensiv gearbeitet und es hat sich gemäss meinen Einschätzungen tatsächlich etwas bewegt.»
Leu zum Sitz im UNO-Sicherheitsrat
«Die Schweiz ist seit 20 Jahren Mitglied der Vereinten Nationen, seit dem 10. September 2002, um genau zu sein. Diesen Juni wurden wir nun für die Periode 2023/24 in den UNO-Sicherheitsrat gewählt, mit einem Glanzresultat, wenn ich das hier so salopp sagen darf. Doch wir bringen für die UNO auch ein spannendes Profil mit. Der Ukraine-Krieg hat die Schwächen des Sicherheitsrates aufgezeigt. Der Verstoss eines bestimmtes Mitgliedes gegen die Charta erschütterte das Vertrauen. Der Sicherheitsrat steht vor grossen Herausforderungen. Ich bin zuversichtlich, dass es uns dank unserem Fachwissen und unserer Erfahrung gelingt, unsere Stärken basierend auf dem Prinzip des Konsenses einzubringen.»
Leu zum Iran
«Ganz besonders am Herzen liegt mir als frühere dortige Botschafterin natürlich die aktuelle Situation im Iran. Die Bilder von den mutigen Protesten berühren uns alle. Vielfach hört man Kritik, die offizielle Schweiz tue zu wenig. Ich kann ihnen jedoch versichern: Die Schweiz schweigt nicht, wenn es um Menschen- und Frauenrechte und deren Verletzung geht. Wir haben den Iran mehrfach aufgefordert, die Redefreiheit einzuhalten und intervenieren regelmässig gegen die Todesstrafe. Eine Übernahme aller Sanktionen ist in unserer Position allerdings heikel, die Schweiz wendet allerdings ein umfassendes Sanktionsdispositiv (UNO- und EU-Sanktionen) an. Als Mandatsträgerin müssen wir die Kommunikationskanäle offenhalten, damit eine Vertrauensbasis entsteht oder beibehalten werden kann und überhaupt die Möglichkeit besteht, miteinander in Kontakt zu treten. Sanktionen sind eine Gratwanderung. Und die Diplomatie kennt nicht nur Schwarz- und Weisstöne, was sie auch so spannend macht. Wir müssen unsere aussenpolitischen Traditionen hinterfragen, aber gleichzeitig aktiv pflegen. Nur durch den Tatbeweis können wir die Notwendigkeit unserer Rolle in der Welt aufzeigen. Ich blicke mit Zuversicht in die Zukunft. Wir sind verankert in Europa und verfügen über tragfähige globale Kontakte.»
Die Stimmung nach den Sondierungsgesprächen erachtet Leu als optimistisch und hoffnungsstiftend. Man dürfe aber nicht vergessen, dass nicht die Schweiz die Verhandlungen 2018 für beendet erklärte, sondern die EU. Und die Nachverhandlungen hätten zu keinem Ziel geführt. Doch je länger man miteinander spreche, umso besser verstehe man die gegenseitigen Probleme. Und dass die Schweiz die Sanktionen gegen Russland mittrage, werde sehr geschätzt.
«Wir tragen sie aber nicht blind mit. Und der Prozess hat eine gewissen Zeit in Anspruch genommen. Früher waren wir zeitlich oft hinter der EU zurück gewesen. Aber weil die Verletzung in diesem Fall derart flagrant war, kurbelte dies das Tempo an. So rasch hat der Bundesrat überhaupt noch nie ein Sanktionsregime akzeptiert. Und dennoch wurde er kritisiert. Dass er bei Übernahme von Sanktionen jeweils die guten Dienste einbeziehen muss, begreifen die Leute schlecht. Wenn man beispielsweise ein Georgien-Mandat wahrnimmt, muss man es vollumfassend wahrnehmen. so Leu.
Auf die Frage von Dominique Reber, ob wir global gesehen nicht wieder in einer klassischen Blockbildung stünden, meinte Leu: «Wir haben sicher eine stärkere Polarisierung als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren. Mit China haben wir aber eine ähnliche Entwicklung durchgemacht. Zuerst gab es einen riesigen Hype, nun konstatiere ich ein veritables China-Bashing. Das macht Aussenpolitik natürlich schwieriger, dieses Alles oder Nichts, dieses ‚You are with me or against me‘. Ich kann hier keine langfristigen Prognosen stellen. Wahrscheinlich wird man irgendwann wieder mit Russland zusammensitzen. Jeder Krieg endet am Verhandlungstisch. Es ist deshalb grundsätzlich eminent wichtig, Brücken nicht abzubrechen.»
Die Frage, ob wir als kleines Land der Bühne des Sicherheitsrates gewachsen seien, beschäftigte die Club-Mitglieder im Hotel Bellevue ganz besonders. Dominique Reber sprach einleitend von einem «Meilenstein der Schweizer Geschichte». Livia Leu zerstreute diesbezügliche Zweifel. Unter den gewählten Mitgliedern des Rates rund um den Globus befänden sich nicht nur Grossmächte. «Wir sind sogar ziemlich gut aufgestellt für eine solche Aufgabe, weil wir unsere Friedenspolitik über all die Jahre hinweg professionalisiert haben. Wir haben ein breites Vertretungsnetz rund um die Welt, gerade in Afrika.» Bezüglich dem Agenda-Setting im Sicherheitsrat habe sich die Schweiz folgende Schwerpunkte gesetzt: Das Völkerrecht, den Schutz von Zivilpersonen, das Themenfeld «Klima und Sicherheit» sowie die Arbeitsmethoden des Rates. Die fünf Vetomächte seien sich dort einig, in vielen anderen Punkten jedoch nicht. Die Schweiz werde auch ein Sanktionskomitee führen und bei der Syrien-Resolution mitarbeiten müssen. Doch sie sei grundsätzlich ausreichend dafür organisiert. Im Übrigen sei die Schweiz nicht das erste neutrale Land, welches Einsitz im Sicherheitsrat nehme und erwähnte in diesem Zusammenhang Schweden und Österreich.
Weitere Fragen aus dem Plenum betrafen die wichtigsten Hürden bei den Verhandlungen mit der EU. Gemäss Leu sind es im Kern stets wiederkehrende Schwierigkeiten. Beim Lohnschutz gebe es in der Schweiz eine hohe Fieberkurve. Auch die Streitbeilegung gehöre zu den Dauerbrennern. Immer wieder in den Fokus der Diskussionen rücke hier auch der Oberste Gerichtshof in Brüssel. Für die EU sei dieser mitsamt seinen Entscheidungen wichtig für den Erhalt der Gleichwertigkeit, für viele Schweizerinnen und Schweizer wirke er jedoch wie ein fremdes Gericht. Auch in Fragen der Zuwanderung sei man sich besonders uneinig. Grundsätzlich habe man aber eine positivere Dynamik erreicht. Leu wurde ebenfalls gefragt, ob der EWR eine mögliche Alternative zur EU darstellen könnte. Ihre Antwort fiel auch hier naturgemäss diplomatisch aus. Man müsse sich bewusst sein, dass die institutionellen Anbindungen dort noch einen Schritt weiter gehen würden und zum Beispiel der Lohnschutz noch mehr unter Druck käme, meinte Leu. Doch der EWR sei immer eine Alternative gewesen und bleibe es auch in Zukunft. Nur wisse sie halt nicht, ob die anderen EWR-Staaten so erpicht darauf wären, die Schweiz willkommen zu heissen, stellte Leu als Frage in den Raum. Antwort gab spontan die ebenfalls anwesende Doris Frick, Botschafterin des Fürstentums Liechtenstein in der Schweiz: «Wir nehmen die Schweiz gerne dazu», meinte sie strahlend und erntete dafür Applaus.
Bilanzierend formulierte Leu als fundamentale Herausforderung der Diplomatie folgendes Summarum: «Das Ende des Kalten Krieges war eine einschneidende Veränderung. Dann kamen 30 gute Jahre. Wir sollten uns dafür einsetzen, uns in Europa wieder besser zu verstehen. Europa bleibt unsere Einheit und unser wichtigster Zusammenhalt. Doch wir sind auch global vernetzt. Und das schliesst sich gegenseitig nicht aus. Es lohnt sich, mit aller Kraft für den Frieden und den Wohlstand in der Schweiz einzustehen. Und diese beiden Werte sind längerfristig nun einmal in der guten internationalen Zusammenarbeit verankert.»