Frischer Wind in der 52. Legislatur

Montag, 29. Januar 2024, Hotel Schweizerhof, Bern

Moderation:
Dominique Reber, Präsident

Auf dem Podium:
Reto Nause, Nationalrat Die Mitte, BE
Hasan Candan, SP-Nationalrat, LU

Knapp 50 Nationalrätinnen und -Räte sind seit dem 4. Dezember 2023 neu im Parlament dabei, darunter die zwei Gäste dieses Abends, der Berner Mitte-Vertreter Reto Nause und der Luzerner SP-Exponent Hasan Candan. Der Biologe und Sportwissenschaftler Candan ist 38. Nause, aktuell noch als Sicherheitsdirektor im Gemeinderat der Stadt Bern, ist 52. SVP-Vertreterin Katja Riem, mit 26 Jahren die jüngste Nationalrätin überhaupt, musste erkältungsbedingt kurzfristig absagen.

Dass der erste Club-Anlass 2024 als launig und locker in Erinnerung bleiben wird, zeigt sich bereits in der Anfangssequenz. Club-Präsident und Moderator Dominique Reber begrüsst unter den Anwesenden namentlich die liechtensteinische Botschafterin Doris Frick und Stadtpräsident Alec von Graffenried. «Er meinte vielleicht, dass wir ihn mit Bart nicht mehr kennen. Dem ist aber nicht so», meint Reber. Erfolgt seine Begrüssung noch auf Hochdeutsch, stellt sich der neue SP-Nationalrat Hasan Candan dann im Luzerner Dialekt vor. Für das Publikum ist das offenbar kein Problem, worauf man sich unisono auf einen Mundart-Abend einigt.

Candan führt sich jedenfalls ohne Schwierigkeiten ein. «Als Heimweh-Berner habe ich mich sehr darauf gefreut, dass eines meiner ersten Podien beim Club Politique de Berne stattfindet.» Er hat hier Sportwissenschaften und Betriebswirtschaften studiert, später im Zweitstudium Biologe. «Ich liebe die Aare und die Altstadt», sagt er. Sein Vater musste die Türkei aus politischen Gründen verlassen, seine Mutter ist Schweizerin. Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Toleranz sind denn auch so etwas wie seine politische Dreifaltigkeit. Politisiert wurde er gemäss eigenen Angaben durch die «Ausschaffungsinitiative» 2010. 2011 wurde er erstmals in den Luzerner Kantonsrat gewählt.

Im Gegensatz zu Candan hat Reto Nause ein Heimspiel, auf seinen Auftritt hat er sich nicht minder gefreut. Seine Polit-Erweckung geschah altersgemäss zwei Jahrzehnte früher, «mit der EWR-Abstimmung 1992. Hoffentlich haben wir übrigens bald wieder eine ähnliche Abstimmung, wir brauchen die Personenfreizügigkeit und eine gemeinsame Basis mit der EU dringend», skizziert er seine Kernziele. Sein Vater kam für eine Anstellung im KKW Mühleberg von Deutschland in die Schweiz. «An einem freien Tag gingen die Mitarbeiter gemeinsam zum Skifahren nach Grindelwald. Mein Vater drängte sich dann in der Gondel vor, wie die Deutschen das so machen, und lief dabei in meine Mutter hinein. Und das Resultat bin ich.» Von seinem Vater habe er gelernt, wie wichtig für die Schweiz das Exportgeschäft sei. «Sonst verarmen wir und das will niemand.» Politisch bekannt wurde Nause Mitte der 1990er-Jahre als Parteisekretär der CVP des Kantons Aargau. Diesbezüglich entkräftet er auch gleich eine Legende. «Der Slogan ,Duschen mit Doris’ stammt definitiv nicht von mir.» Für den Wahlkampf der späteren Bundesrätin Doris Leuthard liess er 1999 mit einem Konterfei von ihr und dem Spruch «Duschbad – erfrischender Aargau» Tausende von Pflegemittelpackungen bedrucken. «Der zum geflügelten Wort gewordene Kalauer ‚Duschen mit Doris‘ war dann ein Titel der ‚Aargauer Zeitung‘», revidiert er die schon vielfach so kolportierte Geschichte. 2005 kam der Historiker und Politologe in den Stadtrat, 2009 in den Gemeinderat. Aufgrund der Amtszeitbeschränkung tritt er am kommenden 27. November nicht mehr an.

Während Nause also bereits über sehr viel Routine verfügt, musste sich Candan stufenweise an den Ratsbetrieb gewöhnen. «Zuerst arbeitete ich im Kantonsrat immer minutiös alle Unterlagen durch und las nicht nur die letzte Seite wie die alten Hasen», erzählt er. Er erinnert sich an einen seiner ersten Vorstösse, den Öffentlichen Verkehr für junge Menschen im Kanton kostenfrei zu machen. «Ich begann mich dann auf Energiethemen zu fokussieren, was in einem Kanton wie Luzern mit mehr Schweinen als Einwohnern ein interessantes und ergiebiges Feld ist. Ich lernte mit der Zeit, zu merken, was utopisch und was machbar ist.» Zuletzt wurde im Kantonsrat ein Vorstoss von ihm zur Installation von Photovoltaik-Anlagen auf Kantonsparkplätzen überwiesen, eine «späte Genugtuung für meine hartnäckige Arbeit».

Nause seinerseits wurde in seinem politischen Wirken stark von den laufenden Ereignissen geprägt. «Ich wurde zu meinem Erstaunen in den Stadtrat gewählt, dann zu meinem Erstaunen in den Gemeinderat. Dort hatte ich es zuerst mit Demonstrationen von linksautonomen Gewaltexponenten zu tun. Dass sie irgendwann von renitenten Treichlern abgelöst würden, damit konnte noch niemand rechnen. Und kaum war die Pandemie vorbei, begann der Ukrainekrieg und wir schlitterten in eine veritable Energiekrise.» Nauses erste Erkenntnis nach zwei Monaten Amtszeit als Nationalrat: «In der Exekutive musst du jeden Tag hinstehen. In der Legislative hingegen kannst Du fordern, das ist deutlich kreativer. Und ich kann erst noch meine Italienisch-Kenntnisse aufpolieren, weil ich neben meinem Tessiner Parteikollegen Giorgio Fonio sitze.»

Dann lassen Nause und Candan noch einmal ihren Wahlkampf und die Wahltag Revue passieren. Candan verfügte über ein bescheidenes Budget von 15’000 Franken. «Vor vier Jahren hatte ich auch schon für den Nationalrat kandidiert. Damals joggte ich mit dem Slogan ‚Für Sie gehe ich die Extrameile’ durch den ganzen Kanton, 400 Kilometer weit. Jetzt habe ich einen zweijährigen Sohn und bin nicht mehr derart flexibel.» Seine Flyer-Verteilaktionen führte er jeweils abends und in der Nacht durch. «Ich rechnete auch damit, dass ich einmal von der Polizei kontrolliert werden würde, als komischer Typ, der bei fremden Leuten im Dunkeln um die Briefkästen schleicht», erzählt er lachend. Dazu kam es aber nicht. Dass er gewählt werden würde, stand auf wackligen Beinen. «Ich lag parteiintern lange hinten und musste erst auf die Auszählung in der Stadt Luzern warten.» So ging es auch Nause. «Um 18 Uhr kam diese Hochrechnung raus, dass die Mitte einen Sitz verlieren würde. Jetzt begann das Zittern erst so richtig. Um 22 Uhr war ich im Rathaus, um 22.30 Uhr kam die Erlösung, eine emotionale Eruption. Man arbeitet mindestens ein Jahr lang hart dafür und ist jeden Abend unterwegs. Und in vier Jahren wird die Anspannung wohl noch grösser sein. Die Frage stellt sich: Bekomme ich den blauen Brief? Eine Abwahl stelle ich mir brutal hart vor.»

Der Wahlsieg hat Candans Leben bereits stark umgekrempelt. «Man drohte mir schon am Wahlabend an: Du und Dein Leben werden sich verändern. Als Erstes musste ich mein Arbeitspensum bei der Pro Natura von 70 auf 50 Prozent reduzieren und die Kinderbetreuung neu organisieren. Und zuerst einmal 600 Gratulations-Mails beantworten. Denn ich möchte allen meinen Wählerinnen und Wählern möglichst gerecht werden.» Diese Umstellungen tangieren auch sein Lieblingshobby Sport. «Ich habe jetzt viel weniger Zeit zum Trainieren. Dafür kann ich meine Karriere beim FC Nationalrat forcieren. Und wenn ich beim Zugfahren eine freie Minute habe, höre ich mir über Kopfhörer True-Crime-Podcasts an. Aber ein Nationalratsmandat ist sicher nie ein ‚9 to 5’-Job, sondern eine Daueranforderung.»

Nause versucht derzeit, seine beiden Ämter möglichst reibungsfrei aneinander vorbeizubringen. «Ich habe zum Glück einen verständnisvollen Stapi», sagt er mit Blick auf Alec von Graffenried, der selber von 2007 bis 2015 im Nationalrat sass. «Er passt auch Sitzungszeiten an, wenn es nötig und machbar ist. Und ich habe einen grossen Standortvorteil, indem ich bloss sieben Minuten vom Bundeshaus entfernt wohne. Doch ich musste mich ebenfalls in meinen Ämtern entlasten, beispielsweise bei meiner Tätigkeit in der Energiedirektorenkonferenz. Doch dafür habe ich jetzt einen noch direkteren Zugang und kann den Albert persönlich anrufen», sagt er auf Bundesrat und Energieminister Albert Rösti anspielend.

Der Einstieg ist den neuen Ratsmitgliedern anfangs Dezember 2023 nicht schwer gefallen. «Ich hatte einen aussergewöhnlichen Start», erzählt Candan. «Ich war schon im November erstmals gefragt. Bei der SP dürfen auch die neugewählte Parlamentarier über das Bundesratsticket bestimmen. Wir haben sieben Stunden beraten, das war sehr intensiv und hochspannend für mich. Und ich wurde sehr wertschätzend aufgenommen.» Eine kleine Enttäuschung erlebte er im Zusammenhang mit den Kommissionen. «Ich hätte natürlich gerne in die Umweltkommission gewollt, habe den Sitz aber nicht bekommen. Dafür bin ich jetzt in der Sicherheitskommission und will hier Vollgas geben. Ich möchte mich auf häusliche Gewalt spezialisieren. Dass der gefährlichste Ort das eigene Zuhause ist, sollte uns zu denken geben.» Auf den ihm zustehenden Einsitz in einer zweiten Kommission verzichtet Candan vorerst. Nause figuriert ebenfalls in der Sicherheitskommission, «für mich natürlich ein Volltreffer. Wir sind nicht verteidigungsfähig und haben einen Krieg in Europa, das ist nicht gut. Wichtig ist für mich auch die innere Sicherheit. Wie können wir unsere Bevölkerung in Krisenzeiten ernähren? Und die Finanzkommission deckt ein Themenfeld ab, das mich ebenfalls enorm anspricht und interessiert.»

Die beiden neuen Nationalräte wirken erfrischend und kommen beim Publikum gut an. Dafür ernten sie bei der finalen Fragerunde zuerst einmal Applaus. Nause und Candan verbindet nebst dem jugendlichen Esprit auch der Sport. Der Luzerner kommt vom Fussball her, wurde während seiner Arbeit am Nationalen Sportzentrum in Magglingen dann aber für den Langlaufsport «angefixt», wie er sagt. «Und zwar von keinem Geringeren als Hippolyt Kempf, Olympiasieger in der Nordischen Kombination 1988 in Calgary.» Nause seinerseits ist passionierter Skifahrer mit Lieblingsgebiet Crans-Montana. Und er präsidiert das OK der Frauen-Fussball-EM 2025 in Bern. «Das wird ähnlich magisch wie 2008 mit den Männern», ist er schon jetzt überzeugt.

Nause wie Candan möchten im Nationalrat beide ihre Konsenbereitschaft unter Beweis stellen. «Im Berner Stadtrat kann ich nicht mit allen ein Bier trinken gehen», sagt Nause, «die RGM-Dominanz dort ist nicht gut fürs politische Klima. Im Nationalrat hingegen sind wir alle viel mehr aufeinander angewiesen im Hinblick auf Mehrheitsbeschaffungen.» Candan sieht dies ähnlich. «Man hat mir schon vorgeworfen, zu neutral und zu konsensfähig zu sein. Ich kann es aber bisher wirklich mit allen recht gut. Wir haben eine Zeit, die sehr herausfordernd ist für unser Land und wir haben Besseres zu tun, als uns zu streiten. Ich will Gemeinsamkeiten finden. Ich will nicht gegen jemanden arbeiten.»

Eine Frage aus dem Publikum betrifft auch die Lobbyisten. Werden Nause und Candan nun von ihren Anfragen überrannt? Candan sagt: «Gewisse Leute haben das Gefühl, ich sei nun viel wichtiger, als ich wirklich bin. Das hat mich schon erstaunt. Bisher habe ich neun Anfragen für einen meiner beiden Bundeshaus-Badges, die ich vergeben kann. Acht davon kommen von Lobbyisten. Aber ich habe mich noch nicht entschieden. Und ich kenne diese Seite ja selber und habe für Pro Natura ebenfalls schon Lobbying betrieben. Ich bin grundsätzlich sehr offen. Fragt mich jemand, ob wir mal zusammensitzen können, sage ich nicht ‚Nein’.»

Auch Reto Nause hat seine Ausweise für den Bundeshaus-Zugang noch nicht verteilt. «Ich habe gemerkt, dass ich nach jedem Parlamentstag etwa vier Mal zu Abend essen könnte. Es wimmelt von Einladungen, aber alles schaffe auch ich nicht. Im Ernst: Der persönliche Kontakt ist immer noch das Wichtigste. Ich gebe allen Lobbyisten meine Handynummer und stelle mich diesen Gesprächen gerne.»

Eine weitere Frage betrifft das veränderte Verhalten der Parlamentarier abseits des Bundeshauses. Früher ging man am Ende eines Ratstages noch zusammen jassen, heute scheint alles individueller geworden zu sein. «Das Parlament ist schon polarisiert» findet Nause. «Wir haben enge Mehrheitsverhältnisse und die Fraktionsdisziplin ist rigider geworden. Aber ich persönlich gehe mit allen eins trinken.» Candan schätzt das «Zwischenmenschliches sehr. Ich war bis jetzt noch jeden Abend irgendwo. Von Andersdenkenden kann ich am meisten profitieren. Sie bringen mich weiter, nicht die Schulterklopfer. Der Austausch mit anderen Parlamentariern liegt mir besonders am Herzen.»

Zum Schluss will Dominique Reber wissen, welche Angelegenheiten die beiden Neu-Nationalräte in den nächsten vier Jahren besonders intensiv verfolgen wollen. Nause nimmt dabei den eingangs erwähnten Faden mit der EWR-Abstimmung von 1992 wieder auf. «Ich möchte mithelfen, das Verhältnis zu Europa wieder auf ein geordnetes Fundament zu stellen. Wichtig ist für mich auch der Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Da könnte ich Ihnen aus meiner Arbeit im Gemeinderat haarsträubende Beispiele schildern, gerade in ganz alltäglichen Berufszweigen wie Nailstudios und Barbershops. Organisierte Kriminalität ist ein Krebsgeschwür, gegen das wir vorgehen müssen.» Für Candan ist es die ebenfalls bereits erwähnte häusliche Gewalt, deren Eindämmung er sich mit voller Kraft widmen möchte. «Dazu kommen meine angestammten Kernfelder Klima, Wasserkonflikte und ein möglichst schonender Umgang mit der Umwelt.»