Krisenmanagement und Umgang mit der Öffentlichkeit

Dienstag, 18. Oktober, Hotel Bellevue Palace, Bern

Moderation:
Dominique Reber, Präsident des Clubs

Auf dem Podium:
Reto Nause, Sicherheitsdirektor der Stadt Bern
Dr. Jürg Rötheli, CEO ORS Group

Jürg Rötheli fühlt sich wohl in Bern. Obschon gebürtiger Solothurner, bezeichnet er sich als der Bundesstadt «zugewandt» und den Abend im Hotel Bellevue als «Heimspiel, auch dank den zehn Jahren in der Konzernleitung der Swisscom». Die ORS Group, die er nun seit sechs Jahren als CEO führt, war in jüngster Zeit zwar mehrfach in den Schlagzeilen, dennoch bleibt ihr Tätigkeitsfeld vage, weshalb Rötheli eingangs einen Blick hinter ihre Kulissen liefert. «Dass die ORS ein privates Unternehmen ist, welches für verschiedene Regierungen Leistungen rund um die Migration erbringt, erstaunte mich selber auch, als ich hier übernahm. Plakativ gesagt kümmern wir uns um Flüchtlinge rund um die ganze Wertschöpfungskette. Wir haben 2000 Mitarbeitende in der Schweiz, Deutschland, Italien und Österreich und generieren einen Umsatz von 170 Millionen Franken. Wir führten in diesen Ländern bisher rund 100 Einrichtungen mit 15’000 bis 16’000 Flüchtlingen. Doch seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine ist alles in Bewegung. So haben wir zum Beispiel das Handling der ukrainischen Flüchtlinge für den Kanton Fribourg übernommen und seit dem 24. Februar 2022 insgesamt schon über 500 neue Mitarbeitende eingestellt. Unsere grösste Herausforderung ist jedoch die Rekrutierung: Wo finden wir überhaupt noch willige neue Mitarbeiter, die in dieses Business einsteigen wollen? Dieses Problem verschärft sich von Woche zu Woche», schildert Rötheli die akuten Schwierigkeiten. Und die Lage spitze sich weiter zu. «Die Behörden finden kaum mehr neue Unterbringungsplätze. Wir haben eine Energiekrise, der Winter naht und wir gehen alle davon aus, dass eine weitere Flüchtlingswelle anrollt.»
 
Ein besonders schwieriges Feld betreffend Unterdotierungen seien gerade die Sozialbetreuung und der Pflegebereich.» Rötheli schlägt deshalb vor, in Krisensituationen wie dieser notgedrungen Konzessionen an den Suchprofilen zu machen. «Nicht immer braucht es in einer leitenden Position zwingend ein Hochschulstudium», findet er. Doch ganz düster malen will er nicht. «Wir verfügen über bewährte und zertifizierte Prozesse, die uns von anderen ähnlichen Unternehmen unterscheiden, auch weil wir sie seit 30 Jahren durchspielen. Wenn ich in eine Unterkunft gehe, will ich den ORS-Geist spüren und sehen. Dieses Gesamtbild versuchen wir überall dort zu implementieren, wo wir tätig sind.»
 
Als städtischer Sicherheitsdirektor steht auch Reto Nause im öffentlichen Fokus. Am meisten gefordert ist er zurzeit mit der Abteilung Schutz und Rettung. «Wir stellen natürlich seit Jahren Risikoanalysen an. Doch wer hätte schon für möglich gehalten, dass plötzlich alles zusammen eintrifft? Eine Pandemie, eine EnergieMangellage und dazu noch die Bedrohung durch mögliche Cyber-Attacken? Wir sind in der Schweiz auf eine multiple Krise mangelhaft vorbereitet, das stellt uns vor grössere Herausforderungen», äussert sich Nause pointiert. «Sicherheit ist ein hochvolatiles Gut, das haben wir jetzt schlagartig gesehen, und es wird jede Woche noch prägnanter sichtbar.» Konkret sagt er: «Sie erinnern sich sicher noch an den neulich vorgefallenen Kartenzahlungsausfall bei Coop. Trotz der relativ kurzen Dauer hat er bereits eine riesige Aufregung in der Bevölkerung ausgelöst. Was aber wäre passiert, wenn dieser eine ganze Woche angedauert hätte? Wäre es zu Plünderungen gekommen? Hätte man die Mitarbeitenden in den Läden durch Polizeikräfte schützen müssen?» Das Problem liegt gemäss Nause darin, dass bisher immer alles nahezu reibungslos funktioniert habe. «Doch niemand weiss, wie es anders wäre. Und ich bin mir nicht so sicher, ob die jetzige Gelassenheit andauern würde.»
 
Dann setzt der Mitte-Vertreter, der seit Januar 2009 im Berner Gemeinderat sitzt, in seiner zugänglichen Art zu einem kurzen Rückblick auf seine bisherige Amtszeit an. «Die ersten Jahre haben uns vor allem die Linksautonomen beschäftigt. Das war aus der jetzigen Warte schon fast ein Wohlfühlprogramm. Dazu kamen höchstens noch die Fussballhooligans. Nun sind die Anforderungen viel mannigfaltiger geworden. Nehmen Sie als Beispiel die Massnahmengegner und Social Media. Heute können Sie innerhalb von zwei, drei Stunden eine Demo mit 5000 Teilnehmenden organisieren. Und diese Leute tauchen in eine ganz eigene Welt ein, wo wir sie nicht mehr erreichen können, sie sich noch mehr radikalisieren und neue Konfrontationen suchen.» Zur Illustrierung schildert er das Ergebnis einer Personenkontrolle beim Bärenplatz, wo verschiedene Corona-Skeptiker auch Russland-Fahnen bei sich trugen. Doch insgesamt ist Nause überzeugt: «Die Behörden haben während der Pandemie einen guten Job gemacht.»
 
Die Corona-Hochphase hat auch Röthelis ORS Group zusätzlich herausgefordert. «Wir haben diese Krise als extrem belastend und schwierig empfunden. Wenn man Kollektivunterkünfte führt wie wir, ist auf einmal logistisches Wissen gefragt, das bisher überhaupt niemand hatte. Und dann kommen auch noch die behördlichen Vorschriften. Das waren unglaublich schwierige Situationen. Wir waren 7×24 Stunden pro Woche gefordert, hatten Burnout-Fälle und mussten dauernd nachrekrutieren. Deshalb mache ich mir auch etwas Sorgen betreffend einer allfälligen nächsten Corona-Welle im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten, die sich aus dem Ukraine-Krieg ergeben.» Von Resignation bei Rötheli jedoch keine Spur: «Ich bin mit Reto Nause einig: Wir müssen diese Situation beherrschen können. Deshalb lagert der Staat ja solche Aufgaben an uns aus. Wenn wir nicht gut wären, gäbe es für uns keine Existenzberechtigung.»
 
Verändert haben sich durch die neuen Kanäle auch in Röthelis Geschäft die Erreichbarkeit. «Die Informationshoheit ist heute an einem anderen Ort. Ich kenne keinen Flüchtling, der kein Smartphone besitzt. Die Menschen informieren sich über Social Media und werden dadurch beeinflusst. Und diese Beeinflussung richtet sich zum Teil gegen uns und den Staat, den wir vertreten. Das erfordert einen speziellen Typus von Mitarbeitern. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele unserer Leute an der Front mit einer enormen Gelassenheit gesegnet sind.»
 
Die Leistung dieser «First Responder» streicht Nause ebenfalls heraus. «Meine höchste Achtung gilt den Kräften, die in der ersten Linie stehen. Die Linksautonomen waren überschaubar, Corona war es nicht. Mit der Sanität waren wir die einzigen, die noch infizierte Patienten transportieren konnten. Doch um eine Ambulanz zu desinfizieren, braucht es zwei Stunden, ein Riesenstress für alle Beteiligten. Oder nehmen Sie ein anderes Feld: Im Tierpark Dählhölzli gibt es genau zwei Pfleger, die den Leoparden artgerecht betreuen können. Wären beide gleichzeitig erkrankt, hätten wir den Leoparden erschiessen müssen. Vieles war schlicht und einfach ‚Learning by Doing‘.»
 
Hier kommt Rötheli erneut auf das Problem der Personalrekrutierung zu sprechen. «Wäre die legale Migration ein probates Mittel, um einen Teil dieser Lücken zu füllen? Doch wer sind diese Leute? Wie sind sie ausgebildet? Allein Deutschland als stärkster Wirtschaftsmotor Europas braucht bis 2025 mehrere Millionen neue Arbeitskräfte, wir stehen also vor einer gigantische Herausforderung.» Dass die Provenienz von arbeitssuchenden Menschen durch ihre Biografie und ihre Abhängigkeiten Probleme aufwirft, weiss auch Nause bestens. «Wir sehen die Schattenseiten der Migration direkt vor Ort und hatten noch nie so viele bedürftige Personen auf der Flucht wie heute, deren Notlage ein Problem darstellt. Dieses Phänomen ist aber nicht aufs Rotlichtmilieu beschränkt, sondern es sind auch andere Arbeitszweige betroffen: Restaurants, Bäckereien oder Wäschereien. Wir treffen bei unseren Kontrollen Leute ohne Arbeitsvertrag oder sogar ohne Aufenthaltsbewilligung an. Wir fragen: Wo wohnen Sie? Sie führen uns zu überfüllten Unterkünften und am nächsten Tag sind sie plötzlich nicht mehr auffindbar. Da sind wir bei klassischer Schwarzarbeit und beim Menschenhandel.» Nause wird noch deutlicher: «In Bern sind mittlerweile Mafia-ähnliche Strukturen vorhanden. Und sie sind so rentabel, dass sie selbst reguläre Arbeitsgebiete unterwandern. Menschen werden schamlos ausgebeutet. Und wenn kontrolliert wird, tauchen sie unter und es wird für sie noch schlimmer.»
 
Vordringlichstes Problem ist für Nause wie Rötheli in den nächsten Wochen der allenfalls knapp werdende Strom, der eine uneingeschränkte Kommunikation gefährden könnte. «Kommunikation ohne Strom kann ich mir nicht vorstellen. Aber der direkte Zugang ist immer noch der beste. Hier haben wir den Vorteil, dass 80 Prozent unserer Mitarbeiter Migrationshintergrund aufweisen und wir so gegen 70 Sprachen abdecken.» Rötheli bleibt trotz Anspannung gelassen. «Ein Unternehmen im 21. Jahrhundert ohne Energie zu führen, kann sich niemand vorstellen. Doch ich bin ein Berufsoptimist und sehe das Glas immer ganz voll, das hilft gegen Krisendenken. Dass wir uns einschränken müssen, kann ich mir vorstellen, und das ist vielleicht auch gar nicht immer schlecht. Mit einer Mangellage können wir auskommen, mit einem Totalausfall nicht. Ich hoffe auf einen milden Winter und vertraue darauf, dass wir Gegenrezepte entwickeln.»
 
Auch Nause bleibt heiter. «Ich bin grundsätzlich auch optimistisch, dass nicht alles ausfällt. Doch es braucht nicht nur einen warmen Winter und die französischen AKW’s, die uns nun wieder retten sollen. Wichtig sind auch ganz profane Massnahmen, um mögliche Kommunikationslücken zu überbrücken. So haben wir unsere entsprechenden Verantwortlichen gebeten, Szenarien auszuarbeiten. Wo trifft sich die Bevölkerung konkret, wenn alle herkömmlichen Kanäle verstummen? Es gibt in der Stadt fünf Notfalltreffpunkte. Dort würden wir dann wohl wieder wie ganz früher von Angesicht zu Angesicht kommunizieren.»
 
Doch soweit soll es nicht kommen, wie beide Protagonisten hoffen. Nause versprüht zum Abschluss intensiv Optimismus. Gefragt nach guten Ratschlägen für die Club-Politique-Mitglieder in diesen anspruchsvollen Zeiten, sagt er: «Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern haben wir starke Institutionen, die sich in der Corona-Krise bewährt haben. Wichtig ist, Ruhe zu bewahren und ab und zu auch an andere Dinge zu denken. Ich habe mir deshalb ein Rammstein-Ticket für den nächsten Sommer im Wankdorf gekauft, das ist doch schon mal eine Perspektive», sagt er lachend. Rötheli seinerseits meint: «Es gibt keine Patentrezepte. Grundsätzlich gilt: Wie halte ich mich über Wasser? Woher hole ich meine Motivation? Brauche ich Anreize? Kann ich mich selber antreiben? Und was ist gute Führung?» Für ihn ist klar: «Selbstführung bedeutet, auch zu sich selber zu schauen. Sich selber im Griff zu haben, erst dann kann man andere in den Griff bekommen und mit ihnen gemeinsam Krisen bewältigen. Rammstein ist nicht so mein Ding, mich würde wohl eher das Klavierspiel über Wasser halten oder meine Familie. Für jeden ist es wohl etwas anderes. Checklisten gibt es nicht.»