Versorgungssicherheit und Gesundheit

Dienstag, 3. Oktober 2023, Schweizerhof, Bern

Moderation:
Dominique Reber, Präsident des Clubs

Auf dem Podium:
Dr. Jens Haarmann, ZHAW, Winterthur
Prof. Dr. Reiner Eichenberger, Universität Fribourg
Jörg Mäder, Nationalrat GLP
Marcel Plattner, Präsident vips
Dr. pharm. Enea Martinelli

Präsentation der Studie:
Dr. Jens Haarmann, ZHAW, Winterthur
(Die Zusammenfassung erfolgt unter Chatham House Rules)

Diskussionsgrundlage: Die Sorgen über die ausreichende Abdeckung mit Medikamenten und Medizinprodukten in der Schweiz nehmen zu, das Thema rückt zunehmend in den Fokus der Politik, der Medien und der Öffentlichkeit. Wer ist verantwortlich für die aktuelle Situation? Welche Rolle spielt der Markt und wie stark greift der Staat mit Regulierungen ein? Welche Aufgaben kommen dem BAG, der Zulassungsstelle Swissmedic, der Wettbewerbskommission Weko in diesem Zusammenhang zu? Welche Lösungen liegen überhaupt im Bereich des Möglichen?

Club-Präsident Dominique Reber begrüsst die Anwesenden und weist zum Einstieg auf die beiden Studien hin, die der Club dieses Jahr in Auftrag gegeben hat. Einerseits die bereits im Mai vorgestellte Untersuchung zur Fragestellung «Wie entwickelt sich das Milizsystem?». Andererseits die nun heute Abend zur Vorstellung kommende Studie zur Versorgungssicherheit bei Arzneimitteln und Medizinprodukten in der Schweiz der Autoren Prof. Dr. Steffen Müller, Dr. Jens Haarmann, Dr. Marcus Zimmer und Corina Lösch, für die vom Juni bis September dieses Jahres 25 Expertinnen und Experten aus der Branche befragt wurden.

Eingangs präsentiert Dr. Jens Haarmann die Ergebnisse der explorativen, nicht-repräsentativen Studie, die Ende Oktober vollumfänglich online greifbar sein wird. Haarmann ist ein profunder Experte auf dem Gebiet und beschäftigt sich seit nunmehr 20 Jahren mit dem Schweizer Gesundheitswesen. Für die aktuelle mangelhafte Versorgungslage in der Schweiz – gegen 950 Medikamente und Medizinprodukte sind zurzeit zum Teil schlecht erhältlich – macht Haarmann folgende Einflussfaktoren verantwortlich: Lieferunterbrüche in China, Indien und der Ukraine, eine überdurchschnittlich hohe Nachfrage, Lieferantenkonkurse, fehlende Transportkapazitäten, behördliche Preissenkungen, die nötige MDR-Zertifizierung für den EU-Raum und Marktrückzüge.

Als Haupttreiber für Marktrückzüge und Engpässe erachten die Experten gemäss der Studie die Regulierungsmassnahmen. Die Attraktivität von Schweizer Generika-Produkten werde weiter abnehmen, die Zukunft wird als negativ beurteilt. Die Mehrheit der Experten unterstreicht die Wichtigkeit von physischen Lagern, die als notwendiger Beitrag zur Versorgungssicherheit taxiert werden. Hinzu kämen die Pflichtlagervorgaben durch das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung BWL bei Niedrigmargen und langsam laufenden Produkten. Zu diesen Bewegungen sei es aus verschiedenen Gründen gekommen. Die Marktzulassung sei schwieriger geworden und die Inflation habe die Profitabilitätsprobleme beschleunigt. Die internationale Preisvergleichsmethodik habe die bereits fehlende Planbarkeit verschärft.

Für die Experten ergeben sich verschiedene Lösungsansätze in den jeweiligen Teilbereichen. Punkto Marktzulassung sind dies Produkte-Leaflets, risikobasierte MDR-Erleichterungen und die Anerkennung der FDA-Zertifikate. Im Bereich der Preissetzung ist es das Aussetzen der Drei-Jahres-Preiskontrollen für tiefpreisige Generika, die Konsistenz und Planbarkeit bei der Preissetzungsmethodik und frei verhandelbare Preise für Produkte der Spezialitätenliste (SL). Bei der Lagerhaltung schliesslich sind es mögliche Vergütungen von Pflichtlagern, die Anreizschaffung für private Lager, ein genaueres Tracking der Versorgungslage sowie klarere Verantwortlichkeiten des Bundes. Das Studien-Fazit über die aktuelle Versorgungslage schlüsselt Haarmann in fünf Punkte auf. Erstens resultierten die Versorgungsengpässe im Frühjahr 2023 aus in- und ausländischen Einflussfaktoren. Zweitens seien inländische Einflussfaktoren regulatorischer Art und führten zu dauerhaften Marktrückzügen. Drittens nehme die Marktattraktivität für Gx- und Medizinprodukte stark ab, dies aufgrund des steigenden Aufwandes für einen kleinen Markt mit teils sinkenden Preisen. Viertens gebe es Handlungsbedarf besonders bei Spezial- und Nischenprodukten. Fünftens sei offen, wohin die Hersteller ihre Lager verschieben würden.

Im folgenden Podiumsgespräch erklärt als erster Dr. pharm. Enea Martinelli pointiert seinen Standpunkt. Je weiter ein Produkt vom Patentablauf sei, umso uninteressanter werde es, hält er grundsätzlich fest. «Es gibt viele Nischen, wo wir weltweit von einem einzigen Anbieter abhängig sind», warnt er. «Grösster Impfstoffhersteller ist Indien. Wenn Indien nun plötzlich Streit mit China bekommt und die Grenzen schliesst, haben wir ein gröberes Problem», so Martinelli zum Klumpenrisiko. Die Original-Hersteller verkauften ihre Marken in einem immer schnelleren Tempo. Und die Käufer stünden nicht so loyal zum Produkt wie ihre Erfinder. Das habe aber nichts mit dem therapeutischen Stellenwert zu tun. «Wir müssen vielerorts auf zweit- und drittbeste Produkte zurückgreifen. Und wir sind ein kleines Land und deshalb ein sehr überschaubarer Markt.» Zur Illustrierung des Preisproblems wählt er das aktuelle Beispiel des bekannten Blutverdünners Marcoumar, auf welchen rund 50’000 Herzpatienten in der Schweiz angewiesen sind und der seit anfangs September in der Schweiz nicht mehr erhältlich ist. Diese Mangellage führe zu einer beträchtlichen Kostensteigerung. Das alte Medikament sei sehr billig, eine Tagesdosis koste rund 10 Rappen, neue Gerinnungshemmer dagegen um die 2.50 Franken. «Wenn alle 50’000 Personen auf ein anderes Präparat umstellen müssten, entstünden dadurch Mehrkosten von 43 Millionen Franken», so Martinelli.

Marcel Plattner ist Präsident von vips, dem 100 Mitglieder starken, grössten Pharmaverband der Schweiz. «Wir vertreten die ganze Bandbreite, von kleinen Start-up-Firmen bis zu Original- und Generika-Herstellern», so Plattner. Er pflichtet Martinelli punkto Preisauswirkungen bei und ortet das Grundübel vor allem bei der staatlichen Marktregulierung, wo er ein düsteres Bild malt. «Nehmen Sie beispielsweise Bactrim, ein Medikament gegen bakterielle Infektionskrankheiten. Früher gab es dafür zehn Generika-Anbieter, heute ist nur noch einer da. Es ist richtig, dass wir sehr viele Stoffe aus dem asiatischen Raum haben, aber das ist nicht die Hauptgefahr. Die Schwierigkeiten, unter denen wir heute leiden, stammen aus einer fehlerhaften Regulierung von vor zehn Jahren. Und Besserung ist nicht in Sicht. Innovative Produkte kommen nicht mehr rechtzeitig heraus und viele Hersteller verzichten grundsätzlich auf den Schweiz Markt, weil er zu stark reguliert und zu klein ist.»

 

Prof. Dr. Reiner Eichenberger von der Universität Fribourg mahnt, bei allen Missständen den Vergleich mit dem Ausland nicht zu unterlassen.Im Schnitt sind die Schweizer dreissig Prozent reicher als die Deutschen das Pro-Kopf-Einkommen betreffend. Dies gewährleistet Qualität in einem umfassenden Sinne. Das ist super, kann aber in Einzelfällen auch zu einer falschen Wahrnehmung führen. Wir geben wesentlich mehr aus pro Kopf als andere Länder und haben die robustesten Gesundheitsausgaben. Das kann gute und schlechte Anreize schaffen. Wenn man so reich ist, besteht die Gefahr, dass eine überzogene Abschöpfung stattfindet. Die Weko habe also eine schwierige Arbeit, mache es sich aber zu einfach. Sie muss einerseits prüfen, ob Preisunterschiede bestehen und ob diese gegebenenfalls auch mit höherer Qualität einhergehen. Auch muss sie berücksichtigen, dass nicht nur die Preise zählen, sondern ein bestmögliches Verhältnis von Preis und Leistung für die Endkunden und damit Qualität im umfassenden Sinn. Nur so kann die Versorgung des Schweizer Marktes sichergestellt werden. Die Lösung liege eigentlich auf der Hand. «Wir müssten totale Transparenz schaffen. Wenn wir einen Engpass haben, sollten wir ihn sofort offenlegen. Daneben braucht es ein vernünftiges Benchmarking. Und die politischen Regeln müssten angepasst werden. Regulatorien sind Abschreckungen für Preissenkungen.»

Der Zürcher GLP-Nationalrat Jörg Mäder hält sich mit deutlichen Aussagen ebenfalls nicht zurück. «Wenn Ihnen jemand verspricht, in naher Zukunft die Gesundheitskosten senken zu können, dürfen Sie herzhaft lachen.» Mäder sieht mehrere Faktoren als Preistreiber. «Erstens müssen wir die Pflege stärken. Zweitens sind wir im Hintertreffen mit der Digitalisierung. Und drittens ist unsere Versorgungssicherheit neuerdings gefährdet. Bis 2019 funktionierte die Weltwirtschaft perfekt. Wenn Sie am morgen online etwas bestellten, lag es am nächsten Tag auf dem Tisch. Dann geriet mit Corona, dem Containerschiff «Ever Given» und dem Ukrainekrieg gleich dreimal Sand ins Getriebe. Plötzlich gibt es nun Engpässe. Sparen Sie nicht mit der Schelte am Staat, aber auch die Privaten sind nicht ohne Schuld. Beim Staat wird einfach öffentlich debattiert, bei den Privaten nicht. Auch Private setzen IT-Projekte in den Sand. Wenn China und Taiwan sich nun weiter verkrachen, rappelt es bald noch heftiger. Was selbst uns betreffen wird. Die Schweiz ist tatsächlich zu klein, da hilft uns auch unser Reichtum nicht mehr. Wir müssen international zusammenarbeiten, um Preise zahlbar zu machen. Wir müssen vom hohen Ross herunterkommen», fordert Mäder.

Enea Martinelli warnt aus eigener Erfahrung vor höheren Lagerbeständen. «Das ist Symptombekämpfung und verursacht zusätzliche Schwierigkeiten. Denn der Importeur haftet. Wenn der Patient Schaden erleidet, kommt er zuallererst zu mir als Apotheker. Unser grosses Problem ist, dass wir niemanden im Cockpit haben. Jeder Kanton ist im Einzelnen zuständig, das ist schlichtweg dumm. Wir müssen dringend definieren, was uns wichtig ist. Wir senken Preise zurzeit konzeptlos und nehmen Patienten in Geiselhaft.»

Eichenberger hakt nach: «Es ist bequem, immer im Herbst im Superman-Cape hinzustehen und zu sagen, wir kämpfen gegen die Kosten – selbst wenn es falsche Massnahmen sind.»

Was natürlich Jörg Mäder auf den Plan ruft. Medikamente seien nicht der grosse Treiber bei den Gesundheitskosten, sagt er. «Die Fixkosten fressen alles weg, die Verteilung der Kosten ist das echte Problem.»

Eichenberger kommt noch einmal auf die Preise zurück. « Wir haben ein relativ tiefes Kostenwachstum im Vergleich mit dem Ausland. Unternehmen können ihre Kosten auf dem kleinen Schweizer Markt teilweise nicht mehr decken.»

Dann folgen Fragen und Inputs aus dem Publikum. So wird angeregt, das aktuelle Pflichtlagersystem zu durchleuchten. Medikamenten-Lager gingen zu Lasten der Branche, in diesem Fall der Pharmazie, andere Pflichtlager aber zum Teil nicht. Da sei eine grundsätzliche Diskussion nötig, um abzuklären, was uns das wert sei.

Zum Thema hohe Medikamentenpreise wird angemerkt, dass nicht nur der Preis, sondern auch die Menge entscheidend sei und wie dieser erhöhte Konsum von den Ärzten, den Spitälern und der Branche beeinflusst und angekurbelt werde.

Zum Thema Gesundheitskosten wird angemerkt, dass es durchaus Spielraum im Bereich der Lohnkosten gebe, sogar im Bereich der Pflege. So könne man sich effektiv überlegen, ob es sinnvoll sei, dass ausgebildetes Pflegepersonal den Patienten auch das Essen serviere. Und es fällt das Stichwort «Verakademisierung der Pflege» als Kostentreiber.

In der Schlussrunde der Referenten sind die Botschaften kurz und klar. Enea Martinelli spricht sich für eine zentrale Steuerung aus, die in der Bundeskompetenz liegt. «Es braucht genau einen Piloten im Cockpit, nicht 26.» Reiner Eichenbergers Kernanliegen ist die Transparenz, «international und auch in der Schweiz. Da sind auch die Medien gefragt.» Marcel Plattner sagt: «Es braucht weniger Regulierung und eine vereinfachte Zulassung für Produkte, die uns fehlen. Auch für Produkte aus dem Ausland. Das würde auch zu mehr Wettbewerb führen und zu tieferen Preisen.» Jörg Mäder fordert: «Wir müssen international denken, die Kompetenzverteilung Bund/Kantone ist von gestern.» Und Jens Haarmann sagt: «Transparenz ist zwingend. Und eine klare Definition: Was ist entbehrlich? Und was ist unbedingt nötig?»